Über den Tellerrand hinaus
„Ja, Mama“ und
„ja, Papa, so werde ich es machen!“
Und genauso machte es Herr Freundlich auch!
Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis ihm irgendwann die Haare ergrauten und ausfielen.
Liebend gern wäre er Musiker geworden, er spielte doch so gern und so gut Violine.
Doch Mama wollte, dass er beim Finanzamt einen ordentlichen Beruf erlernt. Musik wäre schließlich brotlose Kunst! So wurde Herr Freundlich Finanzbeamter.
Ach, und was schwärmte Herr Freundlich für die Anette! Doch Papa war hier der Frauenkenner und aus seiner Sicht wäre die Monika für ihn genau die Richtige!
„Eine Frau, die weiß, wo es lang geht!“
Und was machte Herr Freundlich?
Nein, er heiratete nicht die Monika. Aber auch nicht Anette. Er begnügte sich damit, sie tief in seinem Herzen aus der Ferne zu lieben, bis sich ihre Wege irgendwann gänzlich verloren!
Herr Freundlich hatte einen geregelten Arbeitstag. Wenn er nach der Arbeit wieder zu Mama und Papa fuhr, er wohnte schließlich immer noch bei seinen Eltern, hatte er ein warmes Essen und frisch gebügelte Hemden sicher.
Er begehrte Zuhause auch niemals auf. Schließlich fühlte er sich zu Dank verpflichtet. Zu Dank verpflichtet für die beharrliche Fürsorge seiner Eltern!
Doch das sollte nicht immer so bleiben!
Eines Morgens, ganz unverhofft, wachte seine Mama nicht mehr auf.
Mit ihren 75 Jahren war sie sehr rüstig und fit, fuhr noch Fahrrad und ging zur Gymnastik. Niemand hatte mit ihrem plötzlichen Tod gerechnet! Vier Tage später wurde sie beerdigt. Doch Herr Freundlich konnte um seine Mama nicht weinen. Er wusste nicht, was er empfand. Es fühlte sich irgendwie stumpf und hohl in seinem Innern an.
Doch war das erst jetzt so, oder schon länger? Er wusste es nicht.
Dafür aber weinte sich sein Vater das Herz aus der Seele. Es verging kein Tag, an dem er nicht weinte. Er aß fast nichts mehr und trank zu wenig. Doch zum Arzt wollte er auch nicht. Irgendwie war es absehbar. Schon nach sieben Monaten verstarb auch sein Vater.
Und auch auf der Beerdigung seines Vaters konnte Herr Freundlich nicht eine Träne vergießen! Das ging einfach nicht! Wann hatte er zuletzt geweint? So ging es ihm durch den Kopf. Ach, ja! Das war der Tag, als Nachbar Meyer ihm von Anettes Hochzeit erzählte! Doch um Himmels Willen, das war schon über 20 Jahre her!
Herr Freundlich wurde zunehmend lustloser.
Wofür hatte er eigentlich sein bisheriges Leben gelebt? Und es wurde ihm, bis hin zum kleinen Zeh bewusst, wie sehr er seine Arbeit und sein ganzes bisheriges Leben hasste! Mit jedem Tag fiel es ihm schwerer, dorthin zu gehen! Schon morgens fühlte es sich an, als hätte er Blei in den Schuhen und als wäre seine Krawatte ein Strick.
Ein Strick, den er sich täglich um den Hals band! Seine Kollegen wunderten sich über seine zunehmende Ungenauigkeit. Und wie reizbar er plötzlich war! So kannten sie Freundlich nicht!
Es fiel ihm aber auch mit jedem Tag schwerer, das leerstehende Elternhaus zu betreten! Oft machte er Umwege, um später als üblich, dort anzukommen. Nachts schlief er schlecht. Das stumpfe Hämmern und Pochen seines Herzens ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Mahnende und belehrende Wortfetzen seiner Eltern, schwirrten ich, wie Motten durch den Kopf. Manchmal wünschte er sich zu explodieren, oder einfach mal etwas kaputt zu machen, drauf los zu brüllen!
Er musste etwas verändern! Nicht irgendwann, sondern bald!
Eines Morgens, als Herr Freundlich in einem Meeting war, schaute er nachdenklich und wie verzaubert aus dem Fenster hinaus. Er sah einen wunderschönen Zitronenfalter. Er nickte stumm, als hätte der Falter zu ihm gesprochen, lockerte seinen Krawattenknoten und erhob sich von seinem Platz. Wie hypnotisiert eilte Herr Freundlich zur Tür hinaus.
Draußen war ein herrlicher Frühlingsmorgen! Der Zitronenfalter flatterte vor ihm her.
Er verstand dies als Zeichen, jetzt einen Neubeginn zu wagen!
Herr Freundlich schaute sich nicht um! Mit seinem Fahrrad fuhr er zum nahegelegenen Wald, den er schon aus seiner Kinderzeit kannte.
Dort setzte er sich an den Teich, in dem die Frösche lebendig und lustig quakten.
Herr Freundlich kehrte der Sonne sein Gesicht zu, öffnete seine Arme, als wollte er ihre Strahlen einfangen.
Er wusste, dass er seinen Job aufgeben würde. Erspartes hatte er genug. Das war der erste Schritt zur Veränderung! Es war ihm so glasklar, wie nie zuvor, dass er mit seinem alten Leben brechen musste, um ein neues zu beginnen.
Und dieses Mal hörte er auf seine innere Stimme, die aus seinem Herzen sprach!
Gott sei Dank! Sie war nicht erloschen!
Ein kleiner Zitronenfalter war der Schlüssel zu seinem Herzen.
© lyrikjo