Eifrig schob Erna Kollberg den Einkaufswagen durch ein Labyrinth von verschiedenen Supermarktregalen, tappte vorbei an Gefriertruhen, wühlte in der Bekleidungsabteilung, hielt sich bei den Spielzeugwaren auf, steuerte plötzlich die Käseabteilung an und ließ den Verkaufsstand mit Wurstwaren auch nicht aus. Ihre regelrechte Einkaufsattacke schien kein Ende zu nehmen. Erst als sich der Wagen unter der Last zu biegen schien, schob sie keuchend und schnaufend die „Einkaufslawine“ zur Kasse. Den erstaunten Blick der Kassiererin beantwortete sie mit der freudigen Bemerkung:
„Ja, ich kaufe viel mehr ein als sonst. Wir haben ja auch zwei Mäuler mehr zu füttern.“
„Ach so ist das,“ entgegnete die Kassiererin,
„und ich dachte schon, dass sie wieder für ihre Nachbarin einkaufen.“
Für einen kurzen Moment zuckten Erna Kollbergs Mundwinkel, doch recht schnell entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder.
„Nein, nein, unsere Nachbarin wohnt ja gar nicht mehr in der Sonnenstraße, sie ist jetzt zu ihrem Sohn gezogen. Wir haben unsere beiden Enkel zu Besuch und die haben einen Mords Appetit!“
„Wie, sie haben Enkelkinder? Ich wusste gar nicht, dass sie überhaupt Kinder haben.“
„Tja, die haben wir nun einmal, genau gesagt, haben wir eine Tochter. Und übrigens, das mit den Enkelkindern haben wir bis vor kurzem auch noch nicht gewusst. Doch wie das schöne Sprichwort besagt: Unverhofft kommt oft. Auf Wiedersehen.“
Erna Kollberg watschelte unter dem Gewicht ihrer eigenen Leibesfülle, den Einkaufswagen vor sich hinschiebend, zur Ausgangstür. Mit einem ungläubigen Lächeln blickte die Kassiererin der älteren Frau nach und murmelte halb laut zu sich selbst:
„Komisch, – ich dachte die ganze Zeit, dass sie alleinstehend ist. Wie man sich doch irren kann!“
Die alte Frau hatte es vom Supermarkt aus nicht weit zu ihrer Wohnung:
„Puh, was für ein Glück, dass wir im Parterre wohnen, wüsste nicht, wie ich das sonst schaffen würde. – Na, ja.“
Sie schloss ihre Wohnung auf, schob den Wagen mit Gepolter hinein und rief entzückt:
„Torben, Martin, Oma ist wieder da!“
Es liefen ihr jedoch keine tobenden oder sich freuenden Enkel entgegen.
Das bekümmerte die Frau scheinbar nicht. Doch warum?
„Ach, da seid ihr ja, ihr beiden Buben!“
Auf jeweils einem Küchenstuhl saß eine Stoffpuppe, so groß, wie ein etwa achtjähriges Kind.
„Ihr habt jetzt sicherlich Hunger?“
Sie drückte zuerst die eine, dann die andere Puppe liebevoll an ihre Brust und begann anschließend, den Einkaufswagen zu leeren, der praktisch schon zum Inventar gehörte.
„Ach je, wie dumm von mir! Beinahe hätte ich`s vergessen. Hier, mein lieber Torben, du bekommst einen neuen Schlafanzug und du, mein lieber Martin, bekommst eine neue Trainingshose. Na, gefallen euch die Sachen? Natürlich, hab mir `s doch gedacht.“
Während des Einräumens hielt sie plötzlich inne und fragte ihre beiden Enkel:
„Ach, der Opa, habt ihr ihn schon gesehen, nein? Na, da werde ich wohl ins Schlafzimmer gehen, vielleicht schläft der alte Schnarch-Sack ja noch?“
Zielstrebig steuerte sie das Schlafzimmer an und öffnete schwungvoll die Tür.
„Ach, guck an, da liegst du faul herum und machst unseren Enkeln nichts zu essen. Los, steh auf und setz dich wenigstens zu uns in die Küche, wenn du schon nicht arbeiten willst!“
Sie zerrte aus dem Bett eine weitere Stoffpuppe, die einen Großvater darstellte.
Danach begann sie, das Mittagessen zu bereiten. Es gab Salzkartoffeln mit Frikadellen und Möhrensalat. Sie teilte die Mahlzeit in vier verschieden große Portionen ein und schob jeder Puppe einen Teller hin. Als sie mit ihrem Anteil fertig war, aß sie der Reihe nach, die weiteren Portionen auf. Danach lehnte sie sich zufrieden in ihren Stuhl zurück, der bei jeder ihrer Bewegungen leidvoll ächzte. Rosige Kringel zeichneten sich auf ihrem runden Gesicht ab und ihr Kinn lastete schwer auf ihren breiten Schultern. Sie lobte ihre Enkel für den guten Appetit, den sie wieder einmal bewiesen hatten.
„Ach, gutes Essen macht müde, seufzte sie nach einer Weile gequält und bot ihrem Puppenmann an, mit ihr einen Mittagsschlaf zu halten.
„Ihr beiden Kinder könnt ja jetzt etwas spielen. Wie wäre es mit „Mensch ärgere dich nicht“, das ich euch vom letzten Einkauf mitgebracht hatte?“
Sie räumte rasch den Küchentisch ab, kramte das Spiel aus einer Kommode heraus, deren Inhalt an Spielangeboten nicht zu übertreffen war und baute es den Puppen sorgfältig auf.
„Wenn Opa und ich ausgeschlafen haben, werden wir bestimmt auch eine Runde mit euch spielen.“
Danach packte sie ihren Puppenmann an einem Arm und verschwand mit ihm in ihrem Schlafzimmer. Nach einer Weile kicherte sie laut und flötete:
„Aber Eugen,- lass das, meinst du nicht, dass du dafür schon zu alt bist? Ha, ha, ha!“
Auf diese Weise spielte sich das Leben von Erna Kollberg schon einige Wochen ab. Keiner merkte etwas, denn ihr Bekanntenkreis war sehr klein und nur oberflächlich; Verwandte hatte sie keine. Es fiel zwar auf, dass sie häufiger große Einkäufe tätigte und augenfällig an Gewicht zunahm, doch wen interessierte das? Hin und wieder sprach sie von wunderbaren Ausflügen mit ihren Enkeln und ihrem Mann, deren Ziel stets in größere Entfernung vom Wohnort führte. Ab und zu kam auch die angebliche Tochter vorbei, um nach ihren Söhnen zu sehen. Die neuste Information war, dass sich die Tochter ebenfalls im Ort ansiedeln wollte und um eine geeignete Wohnung bemühte. Die beiden Enkel würden selbstverständlich solange bei Oma und Opa bleiben und in der naheliegenden Grundschule angemeldet. Als Frau Kollberg sich eines Tages wieder mühsam auf ihren schweren Beinen vorwärts schleppte und wieder einmal einen vollen Einkaufswagen zur Kasse schob, fragte die Kassiererin beiläufig:
„Warum helfen ihre Enkelkinder oder ihr Mann ihnen nicht beim Einkauf?“
Die alte Frau wurde regelrecht feindselig und fauchte aus schmalen Augenwinkeln die Kassiererin an:
“Mischen sie sich nicht in meine Familienangelegenheiten ein!“
Verlegen senkte die Kassiererin ihren Blick und pispelte:
„Verzeihung.“
Seit diesem Vorfall ließ sich Frau Kollberg seltener im Supermarkt blicken. Sie grüßte kurz, erzählte aber nichts mehr über ihr „Familienleben“. Natürlich wurde sie von der Kassiererin auch nichts mehr gefragt und auch nicht von anderen Leuten. Außer einem freundlichen „Guten Morgen“ oder „Guten Tag,“ vielleicht noch
„ach, ist das Wetter schrecklich!“, wurden keine Worte mehr gewechselt. Man dachte sich höchstens: Frau Kollberg ist eben eine alte, etwas merkwürdige Frau, soll sich doch ihre Tochter um sie kümmern oder ihr Mann. Irgendwann hörten ihre Einkäufe im Supermarkt gänzlich auf. Aber niemand vermisste Frau Kollberg. So ein Supermarkt ist eben kein Tante-Emma-Laden, da merkt man sich keine Gesichter und wen interessiert schon eine alte, schrullige Frau?
Nach etwa einem halben Jahr war in der örtlichen Zeitung von einem skandalösen Vorfall zu lesen:
„75jährige Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden.
Nachbarn alarmierten die Polizei, nachdem ihnen der penetrante Geruch auffiel, der aus der Wohnung der Verstorbenen drang.“
Diese Nachricht machte im gesamten Ort die Runde.
Das Entsetzen war groß, da solche Vorfälle doch eigentlich nur in Großstädten passierten. Und das ausgerechnet in einer ländlichen Kleinstadt mit zwölftausend Einwohnern? Wie unangenehm!
Auch die Kassiererin las die Schreckensnachricht und viele andere, die Frau Kollberg doch gewisse Zeit regelmäßig begegneten. Doch irgendwie kam niemand auf die Idee, dass da in der Zeitung von Frau Kollberg die Rede war.
Sie hatte doch schließlich einen Ehemann, zwei reizende Enkel und eine Tochter.
© lyrikjo