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Die Geschichte von Rotkäppchen aus der Sicht des Wolfes
„Knurrrrrr, knurrrrr, was knurrt mir der Magen! Schon fünf
Tage nichts zu futtern gekriegt, wie soll denn ein hungriger Wolf meiner Größe
das nur ertragen?“
Völlig ausgemergelt streifte der Wolf aus Rotkäppchens Welt
schon seit Tagen durch den finsteren Wald und fand nichts, was ihn sättigen
könnte.
„Die Rehe sind auch nicht mehr das, was sie mal waren; viel
zu flink und ich viel zu schwach! Mir fehlt gar die Kraft den Mond anzuheulen,
wo ich das doch so gerne mach!“
klagte er bitterlich.
„Ai, was schnuppert da meine empfindliche Nase?
Menschengeruch und noch mehr! Am besten verstecke ich mich und schau, wer da so
kommt.“ bemerkte der Wolf mit leiser Hoffnung gestärkt.
„Das ist doch, aijajaj, das ist doch das Rotkäppchen vom
Bauernhof, der gar nicht so weit entfernt von hier liegt. Der Bauer hat doch
neulich mit einem Schrotgewehr auf mich geschossen, nur weil ich mir ein
leckeres Gänschen schnappen wollte! Zum
Glück hat er mich verfehlt! Doch der Schreck sitzt mir immer noch im Nacken. Im
Nacken der Schreck, im Bauch der Hunger!“ schoss es dem Wolf durch den Kopf.
„Ich darf es nicht mehr so plump angehen, ich mache mal auf
charmant!“ nahm er sich vor.
„Servus, schönes Mädli, wohin des Weges?“
Scheu blickte das Rotkäppchen zum Wolf hinüber und gab dem
Wolf zur Antwort:
„Meine Mutter hat mir verboten mit Fremden zu sprechen“,
„ach, da schau her, Recht hat deine Mutter, du solltest ihren
Rat befolgen!“ erwiderte der Wolf so freundlich, wie es ihm nur möglich war,
schließlich ging es um Tod oder Leben.
„Darf ich mich vorstellen? Ich bin Halloween, hier in diesem
Wald beheimatet.“
Der Wolf machte eine vornehme Verbeugung, wie ein Diener
eines edlen Herrn.
„Halloween?“ wiederholte das Rotkäppchen. „Was für ein
seltsamer Name! Da du dich aber so höflich vorstellst, ich bin das Rotkäppchen,
beheimatet im Gänsehof!“
„So, so, Rotkäppchen vom Gänsehof.“ grinste der Wolf und entblößte
dabei beinahe seine spitzen Zähne, die schon so lange nichts Festes mehr gekaut
hatten. Dann setzte er fort:
„Jetzt, wo wir uns gegenseitig vorgestellt haben, bin ich dir
doch nicht mehr ein Fremder.“
Dabei schaute er das Rotkäppchen so treu an, wie die Unschuld
vom Lande.
„Hm, lass mich überlegen“, antwortete das Rotkäppchen, und
fuhr mit den Worten fort:
„Hast recht Halloween. Jetzt aber halte mich nicht länger
auf, ich darf nicht zu spät bei meiner kranken Großmutter ankommen!“
„Verzeihung, Rotkäppchen, geh nur zu deiner Großmutter und
grüß sie von mir!“
Sofort setzte das Rotkäppchen seinen Weg fort und ahnte
natürlich nicht, was da noch kommen sollte.
„Das Rotkäppchen vom Gänsehof ist selbst ein dummes
Gänschen“, lachte der Wolf spöttisch in sich hinein und der Sabber triefe ihm
aus seinem hungrigen Maul.
Und wie die Geschichte weiter geht, weiß doch jedes Kind. 😊